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Diagnoseirrtum oder Befunderhebungsfehler?

OLG Saarland, Urteil vom 03.05.2017 - 1 U 122 15

Ein Diagnosefehler liegt vor, wenn der Arzt erhobene Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus Sicht seines Fachbereichs gebotenen - therapeutischen o. diagnostischen - Maßnahmen ergreift. Bei einem Diagnosefehler kommt eine Beweislastumkehr allerdings nur dann in Betracht, wenn es sich um einen fundamentalen Irrtum handelt.

Ein Diagnosefehler setzt voraus, dass der Arzt die medizinisch notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat, um sich eine ausreichende Basis für die Einordnung der Krankheitssymptome zu verschaffen. Hat dagegen die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung ihren Grund bereits darin, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat - er mithin aufgrund unzureichender Untersuchungen vorschnell zu einer Diagnose gelangt, ohne diese durch die medizinisch gebotenen Befunderhebungen abzuklären - dann ist dem Arzt ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Denn bei einer solchen Sachlage geht es im Kern nicht um die Fehlinterpretation von Befunden, sondern um deren Nichterhebung.

 

Ein Diagnosefehler rechtfertigt aber nach gefestigter Rechtsprechung nicht aus sich heraus den Schluss auf ein vorwerfbares ärztliches Fehlverhalten. Fehleinschätzungen sind in der medizinischen Praxis nicht ungewöhnlich, weil die Symptome einer Erkrankung oft nicht eindeutig sind. Jeder Patient kann aufgrund der Eigenheiten des menschlichen Organismus die Symptome ein und derselben Krankheit in unterschiedlichen Ausprägungen aufweisen.

 

Bei einer objektiv fehlerhaften Diagnose ist zu unterscheiden, ob es sich um einen vorwerfbaren oder nicht vorwerfbaren Diagnosfehler handelt, der keine Haftung begründet. Zweiteres ist der Fall, wenn ein Arzt - gemessen an dem Facharztstandard seines Fachbereichs - die gebotenen Befunde erhoben und vertretbar gedeutet hat. Ist die Diagnose dagegen nicht mehr vertretbar, liegt ein vorwerfbarer Diagnosefehler i.S.e. einfachen Behandlungsfehlers vor. 

 

Bei einem Diagnosefehler kommt eine Beweislastumkehr nur dann in Betracht, wenn der Fehler als grob zu bewerten ist. Ein Fehler bei der Interpretation der erhobenen Befunde stellt allerdings nur dann einen schweren Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst und damit einen "groben" Diagnosefehler dar, wenn es sich um einen fundamentalen Irrtum handelt. Wegen der bei Stellung einer Diagnose nicht seltenen Unsicherheiten muss die Schwelle, von der ab ein Diagnosefehler als schwerer Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst zu beurteilen ist, der dann zu einer Belastung der Behandlungsseite mit dem Risiko der Unaufklärbarkeit des weiteren Ursachenverlaufs führen kann, hoch angesetzt werden. (Voraussetzung ist, dass ein Sachverständiger die ärztliche Bewertung als schlicht unverständlich einstuft.)

 

Ein Diagnosefehler wird auch nicht dadurch zu einem Befunderhebungsfehler, dass bei objektiv zutreffender Diagnosestellung noch weitere Befunde zu erheben gewesen wären bzw. solche hätten empfohlen werden müssen. Demjenigen Arzt, der eine unterhalb des fundamentalen Diagnoseirrtums liegende unrichtige Diagnose gestellt hat, und deshalb aus seiner Sicht folgerichtig bestimmte Befunde nicht erhoben bzw. hier nicht veranlasst hat, kann keine unterlassene Befunderhebung zur Last gelegt werden. Andernfalls würde nahezu jeder Diagnosefehler zu einem Befunderhebungsfehler und - bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen - zu einer Beweislastumkehr führen.

KANZLEI WERNER • Ihr Partner für Medizinrecht / Arzthaftungsrecht, Personenschadensrecht & Versicherungsrecht​

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