Weiterleben als Schaden
BGH, Urteil vom 02.04.2019 - VI ZR 13/18
Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Aus dem durch lebenserhaltende Maßnahmen ermöglichten Weiterleben lässt sich i.d.R. kein Anspruch auf Schadensersatz herleiten.
Der Kläger macht als Alleinerbe seines im Oktober 2011 verstorbenen Vaters (Patient) gegen den Beklagten Ansprüche auf Schadensersatz im Zusammenhang mit der künstlichen Ernährung des Patienten in den Jahren 2010 und 2011 geltend. Er ist der Auffassung, der Beklagte hafte für die durch die künstliche Ernährung bedingte sinnlose Verlängerung des krankheitsbedingten Leidens des Patienten. Der 1929 geborene Patient stand wegen eines dementiellen Syndroms von September 1997 bis zu seinem Tod unter Betreuung, die sowohl die Gesundheitsfürsorge als auch die Personensorge umfasste. Während eines Krankenhausaufenthalts wurde ihm im September 2006 wegen Mangelernährung und Austrocknung des Körpers mit Einwilligung des Betreuers eine PEG-Sonde angelegt, durch welche er bis zu seinem Tod künstlich ernährt wurde. Der Patient hatte weder eine Patientenverfügung noch ließ sich sein Wille hinsichtlich des Einsatzes lebenserhaltender Maßnahmen (noch finanzielle Absichten, wie das Erbe möglichst ungeschmälert zu erhalten) anderweitig feststellen. Der Kläger trug vor, das durch die Fortführung der Sondenernährung und das Fortdauernlassen der Leiden seien der Körper und das Persönlichkeitsrecht des Patienten verletzt worden. Deshalb stünde dem Kläger aus ererbtem Recht ein Anspruch auf Schmerzensgeld zu. Zudem habe er einen Anspruch auf Ersatz der im streitgegenständlichen Zeitraum entstandenen Behandlungs- und Pflegeaufwendungen in Höhe von 52.952 €, die ohne die Behandlung nicht entstanden wären, da der Patient dann nicht mehr gelebt hätte.
Der BGH hat entschieden: Dem Kläger steht kein Anspruch auf Zahlung eines Schadensersatzes zu.
Für die Bestimmung eines Schadens bedarf es eines Vergleichs der bestehenden Gesamtlage mit der Lage, die ohne das schädigende Ereignis bestanden hätte.
Ein etwaiger Nachteil, der sich bei diesem Vergleich ergibt, ist nur dann ein Schaden, wenn die Rechtsordnung ihn als solchen anerkennt. Daran fehlt es im vorliegenden Fall. Hier steht der durch die künstliche Ernährung ermöglichte Zustand des Weiterlebens mit krankheitsbedingten Leiden dem Zustand gegenüber, wie er bei Abbruch der künstlichen Ernährung eingetreten wäre, also dem Tod. Die Option eines Weiterlebens ohne oder mit weniger Leiden gab es nicht. Das Urteil über den Wert des Lebens steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben - auch ein leidensbehaftetes Weiterleben - als Schaden anzusehen. Das dem Leben anhaftende krankheitsbedingte Leiden, das durch lebenserhaltende Maßnahmen verlängert wird, kann schon deshalb nicht für sich genommen als Schaden angesehen werden, weil es sich nicht - wie etwa die planwidrige Geburt eines Kindes und die damit verbundene Unterhaltspflicht der Eltern - vom Leben trennen lässt.
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